Eine italienische ParteienkartographieSeit Februar 2021 führt der frühere EZB-Präsident Mario Draghi eine Regierung, in der fast alle italienischen Parteien vertreten sind, von der rechtspopulistischen Lega und Silvio Ber-lusconis Forza Italia über die Protestbewegung der Fünf Sterne hin zu der gemäßigt linken Partito Democratico (PD) und auch der kleinen radikal linken Liste Liberi e Uguali (LeU –Freie und Gleiche). Als nennenswerte Oppositionskraft steht dieser Regierung alleine die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) gegenüber.
Eine italienische Parteienkartographie
Seit Februar 2021 führt der frühere EZB-Präsident Mario Draghi eine Regierung, in der fast alle italienischen Parteien vertreten sind, von der rechtspopulistischen Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia über die Protestbewegung der Fünf Sterne hin zu der gemäßigt linken Partito Democratico (PD) und auch der kleinen radikal linken Liste Liberi e Uguali (LeU –Freie und Gleiche). Als nennenswerte Oppositionskraft steht dieser Regierung alleine die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) gegenüber.
Zustande kam diese Regierung als Notstands- und als Negativkoalition: Sie verdankt ihre Existenz der Tatsache, dass das Gros der Parteien angesichts der Pandemie, angesichts auch der Tatsache, dass Italien mit der Umsetzung des 191 Milliarden Euro schweren Next-Generation-EU-Programms befasst ist, angesichts schließlich der Furcht einiger Parteien vor den Urnen eine Fast-All-Parteien-Regierung einem vorzeitigen Wahlgang vorzogen.
Dahinter steht die Tatsache, dass seit den Wahlen 2018 drei politische Lager im Parlament vertreten sind, von denen keines über eine eigene Mehrheit verfügt: Wahlsieger war damals als stärkste einzelne Partei die vom Comedian Beppe Grillo gegründete Protestbewegung Movimento5Stelle (M5S – 5-Sterne-Bewegung) mit 32,7%; der Rechtsblock kam auf insge-samt 37%, von denen Matteo Salvinis Lega 17,4%, Berlusconis Forza Italia (FI) 14% und die postfaschistische FdI 4,4% erhielten; die Linke musste sich mit 26,9% begnügen, von denen 18,7% auf die PD und 3,4% auf LeU entfielen.
Da keines der drei Lager über eine Mehrheit verfügte, kam es zu Koalitionslösungen zwi-schen Partnern, die einander eigentlich als inkompatibel empfanden. Zunächst bildeten die Fünf Sterne und die Lega eine Regierung unter dem parteilosen Juristen Giuseppe Conte (Juni 2018-August 2019), deren Kitt im gemeinsamen Gestus als Anti-Establishment-Kräfte bestand. Im August 2019 kündigte Matteo Salvini diese Koalition jedoch auf, da er sich an-gesichts des starken Zuwachses der Lega einen Sieg bei vorgezogenen Neuwahlen erhoffte.Zu ihnen kam es nicht, weil völlig überraschend nun das M5S eine Koalition mit der Linken schloss, erneut unter Giuseppe Conte. In dieser Koalition waren das M5S, die PD und LeU vertreten – sowie die kleine Partei Italia Viva (IV), die der frühere Parteivorsitzende der PD und Ministerpräsident Matteo Renzi per Abspaltung von der PD im September 2019 geschaffen hatte. Als Renzi nun im Januar 2021 den Rückzug der IV aus der Koalition verkündete, stand Conte ohne Mehrheit im Parlament da und musste den Weg für Draghi freimachen. Es liegt auf der Hand, dass diese Notstandsregierung eine reine Übergangslösung ist, die ihr Ende spätestens mit den regulär im Februar 2023 stattfindenden nächsten Wahlen finden wird. Ebenso liegt auf der Hand, dass die drei politischen Lager diese Zeit zu nutzen suchen, um sich mit Blick auf diese Wahlen zu konsolidieren und zu positionieren.
Die italienische Rechte
Kein anderes westeuropäisches Land verfügt über eine so starke populistische Rechte wie Italien. Vorreiter dieser Entwicklung war zweifellos Silvio Berlusconi, der mit seiner Forza Italia in den Jahren 1994-2018 das politische Segment rechts der Mitte dominierte, der in den Jahren 1994, 2001-2006 und 2008 bis 2011 Ministerpräsident war – und der den Populismus im Land hoffähig machte. Seine Variante des Populismus war weniger etwa durch Fremdenfeindlichkeit und scharfen Nationalismus als durch Schönwetter-Versprechen wie „eine Million neue Arbeitsplätze“ oder „weniger Steuern für alle“ geprägt. Verlassen konnte sich Berlusconi in allen diesen Jahren auf zwei Juniorpartner: einerseits die Lega Nord, die aggressiv die Interessen der reichen Nordregionen gegen den Zentralstaat und den Süden vertrat, andererseits die politischen Erben des italienischen Faschismus, die auf Nationalismus und Law-and-order setzten.
Noch bei den Wahlen 2013 dominierte Berlusconis Liste das Lager mit knapp 22%, während die Lega Nord auf 4,1% und die postfaschistischen Fratelli d’Italia auf nur 2% kamen. Doch die Wahlen 2018 brachten eine Umkehrung der Kräfteverhältnisse im rechten Lager. Die Lega schnellte auf 17% hoch, Forza Italia brach auf 14% ein, FdI steigerte sich auf 4%.
Vor allem der Aufstieg der Lega verdankte sich einer radikalen Wende der Partei unter ihrem neuen Chef Matteo Salvini: statt regionalistisch gab sie sich nun ultra-nationalistisch („Italie-ner zuerst!“) und setzte auf aggressive Kampagnen gegen die als „Invasion“ gebrandmarkte Immigration ebenso wie gegen die EU und den Euro. Ähnlich positionierte sich auch FdI – und Italien hatte in den Jahren tiefer ökonomischer und sozialer Krise den Übergang von Berlusconis Schönwetter zu einem aggressiven Schlechtwetter-Populismus erlebt.
Vor allem Salvini nutzte dann das Jahr seiner Regierungsbeteiligung 2018-2019, der er als Innenminister angehörte, um mit zu harten Maßnahmen gegen die Immigration („geschlos-sene Häfen“) seine Beliebtheit zu steigern. Dies trug ihm weiteren Popularitätszuwachs ein und bescherte der Lega bei den EP-Wahlen von 2019 sensationelle 34%, während FdI auf 6,4% anstieg: 40% der Italiener_innen hatten damit hart rechtspopulistische Parteien gewählt.
Bis heute konnten diese beiden Parteien in der Summe ihre Stärke halten. Daran haben weder die Tatsache, dass die Regierung Conte II (Koalition Fünf Sterne-PD) das Land in der Summe gut durch die Pandemie steuerte, noch auch die Tatsache, dass Italien von der EU in den nächsten Jahren Wiederaufbauhilfen von 191 Milliarden Euro erhalten wird, etwas geändert.
Geändert hat sich alleine das Kräfteverhältnis zwischen Lega und FdI. Schon seit 2019 erlebte FdI unter ihrer jungen und populären Anführerin Giorgia Meloni einen kontinuierlichen Aufstieg. Dieser wurde verstärkt, als Salvinis Lega sich im Februar 2021 entschloss, die Regierung Draghi mitzutragen, während Melonis FdI in der Opposition verharrte und diese Rolle nun monopolisieren kann. Mittlerweile liegen beide Parteien mit je 20% in den Meinungsumfragen gleichauf.
Bei aller Konkurrenz zwischen ihnen darf als ausgemacht gelten, dass sie bei den nächstens nationalen Wahlen spätestens 2023 wieder in einer Allianz antreten werden, zu der auch Berlusconis auf 7-8% abgerutschte Forza Italia gehören wird. Immer wieder gibt es Überlegungen gar einer Fusion von insbesondere Lega und Forza Italia. Und Berlusconi hätte in der Tat wenig Skrupel seine Forza Salvinis Lega zu verkaufen, wenn ihn dieser im Gegenzug zum nächsten italienischen Präsidenten im Frühjahr 2022 machte. Auf jeden Fall läuft Italien das konkrete Risiko, in Zukunft von ultranationalistischen Kräften regiert zu werden, deren Ansprechpartner_innen in Europa Orban, Kaczinsky, Le Pen oder Wilders heißen.
Die Fünf Sterne
Das M5S ist zweifellos die politische Kraft, die die politische Landschaft Italiens in den letzten zehn Jahren durcheinandergewürfelt hat wie keine andere. Erst im Jahr 2009 gegründet, setzte die Bewegung unter ihrem charismatischen Anführer Beppe Grillo vor allem auf scharfe Kritik an der „politischen Kaste“ der traditionellen Parteien und auf das Versprechen einer direkten Demokratie auch in der eigenen Bewegung, die vor allem online organisiert werden sollte. Schon bei den Wahlen 2013 erreichten die Fünf Sterne 25%, um dann 2018 mit fast 33% zur stärksten Kraft zu werden und mit 225 der 630 Abgeordneten sowie 111 der 315 Senator_innen auch die größten Fraktionen zu bilden.
In den folgenden zwei Jahren koalierte die Bewegung erst mit der rechtspopulistischen Lega, dann mit der gemäßigt linken PD. „Weder rechts noch links“ wollte die Bewegung seit ihrer Gründung sein, und es war ihr sowohl gelungen, Aktivist_innen ebenso wie Wähler_innen aus allen politischen Lagern zu gewinnen. Doch im Übergang von der Opposition zur Regie-rung stieß diese Logik an ihre Grenzen, und das M5S zahlte einen hohen Preis. In den Mei-nungsumfragen rutschte es schnell von 33% auf unter 20% ab und liegt heute bei 15-17%. Zugleich verlor es 94 seiner 336 Parlamentarier_innen durch Austritte und Ausschlüsse in alle politischen Richtungen von links- bis rechtsaußen.
Hatte die Protestbewegung in der Opposition aus ihrer Gegnerschaft gegen die „alte“ Politik einen enormen Aufschwung erlebt, so zeigte sich an der Regierung ihre doppelte Schwäche: Sie verfügte weder über einen inneren Kompass noch über eine transparente Organisati-onsstruktur. Sie predigte Basisdemokratie – und dennoch agierte Beppe Grillo faktisch im-mer wieder als diktatorischer Anführer.Diese Schwäche sollte nach dem Scheitern der Regierung Conte im Februar 2021 überwun-den werden. Conte selbst – bisher nicht zum M5S gehörend – sollte neuer Vorsitzender werden und die Bewegung faktisch in eine Partei verwandeln. Zugleich wollten die Fünf Sterne sich mit einem geschärften ökologische-sozialen Profil als Kraft der linken Mitte aufstellen. Hierzu gehörte auch die Bildung einer stabilen Allianz mit der PD als Gegengewicht zur italienischen Rechten.
Nicht über inhaltliche Differenzen, sondern allein über die Machtfrage kam es dann jedoch im Juni 2021 zu einem Zusammenstoß zwischen Beppe Grillo und Giuseppe Conte, der das M5S an den Rand der Spaltung brachte: Conte reklamierte die alleinige Zuständigkeit für die Führung der Bewegung, während Grillo weiterhin als „Garant“ eine zentrale Rolle in ihren Entscheidungen spielen wollte. Am Ende konnte die Spaltung vorerst abgewendet werden und Conte sich weitgehend durchsetzen.
Doch es wird sich erst noch zeigen müssen, ob der Kompromiss auch im Alltag tragen wird. Und es wird sich auch zeigen müssen, ob unter Conte die Konsolidierung ebenso wie der Neustart des M5S gelingt. Hieran hängt nicht zuletzt, ob sich eine gegen die starke Rechte konkurrenzfähige Parteienallianz links der Mitte herausbilden kann.
Partito Democratico
Viel Dynamik und so manche Verwerfung gab es auch beim Partito Democratico. Nach der Wahlniederlage Renzis 2018, bei der die PD mit 18,7% ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren hatte, gönnte sich die Partei ein einjähriges Interregnum bevor mit Nicolà Zingaretti im März 2019 ein neuer Parteivorsitzender per Urwahl gewählt wurde. Zingaretti ver-suchte die zerstrittene PD zu einen, zu modernisieren und inhaltlich etwas weiter nach Links zu verschieben. Für den organisatorischen und programmatischen Konsolidierungskurs bliebt jedoch kaum Zeit, da im Spätsommer 2019 der Wechsel von der Oppositionsbank auf die Regierungsbank erfolgte. Statt die Neuausrichtung der PD voranzutreiben, galt es nun mit den ungeliebten M5S ein einigermaßen funktionierendes Regierungsbündnis zu schmieden und zugleich die Abspaltung von Matteo Renzis neuer Partei Italia Viva zu verkraften.Die Regierung Conte II, die ursprünglich primär getragen war von dem Bestreben, Matteo Salvini den Weg in den Palazzo Chigi zu versperren, hatte alsbald ihre eigentliche Bewährungsprobe nach Ausbruch der Coronapandemie zu bestehen. Mit großer Entschlossenheit und insbesondere auch hoher Geschlossenheit führte die Regierung Conte II das Land durch die Krise 2020 und erfreute sich sehr hoher Zustimmungsraten Seitens der Bevölkerung, die sich allerdings nicht in einem Anstieg der Zustimmung der sie tragenden Parteien niederschlug.
Als zum Jahresende 2020 Matteo Renzi aus eher persönlichen, denn aus inhaltlichen Gründen begann, am Stuhl von Conte zu sägen, war es insbesondere Zingaretti, der sich – am Ende vergeblich – massiv für Conte einsetzte. Zingarettis Agieren war getragen von der Überlegung, dass es lediglich durch ein strategisches Bündnis mit dem M5S möglich ist, den Durchmarsch der rechten und rechtspopulistischen Parteien in Italien aufzuhalten. Dieser Kurs stieß auf den Widerstand einer kleineren, aber meinungsstarken innerparteilichen Strömung, die mit ihren Querschüssen erreichte, dass Zingaretti im Frühjahr 2021 entnervt das Handtuch hinwarf.
Neuer Parteivorsitzender wurde der ehemalige Ministerpräsident Enrico Letta, der 2014 recht rüde von Matteo Renzi aus dem Amt gedrängt worden war und die vergangenen Jahre gleichsam im Pariser Exil verbracht hatte. Kaum ins Amt gewählt, wechselte er die Führungsspitzen in Partei und Parlamentsfraktionen aus und setzte konsequent den von Zingaretti begonnen Kurs der Profilschärfung und der strategischen Annäherung an die M5S fort. Ob dieser gelingt und auch die gewünschten Früchte tragen wird, hängt stark davon ab, ob die Transformation der M5S von der populistischen Bewegung zur bündnisfähigen Partei gelingt. Wichtiger Test werden die anstehenden Kommunalwahlen im kommenden Herbst sein. In wichtigen Städten wie Rom oder Turin ist es allerdings nicht gelungen, sich auf gemeinsam getragene Kandidat_innen zu verständigen. Das angestrebte Bündnis zwischen PD und M5S ist ein überaus fragiles und äußerst störungsanfälliges.
Die italienische Parteienlandschaft ist von einer hohen Dynamik geprägt, wie wir sie aus keiner anderen westeuropäischen Demokratie kennen. Die kommenden Monate werden entscheidend für die Neuformatierung der Parteienlandschaft sein. Offen ist, ob die Transformation der Fünfsterne von einer populistischen Bewegung zur Partei gelingt, ein strategisches Bündnis zwischen PD und M5S gebildet werden kann und ob im rechten Lager der Höhenflug von Giorgia Melonis postfaschistischen Fratelli d’Italia Salvinis Lega weiter in die Defensive drängen wird, der momentan versucht, Regierungs- und Oppositionspartei in ei-nem zu sein. Es wird zu einem sich intensivierenden Profilierungswettbewerb kommen, nicht zuletzt auch, weil im September das sogenannte „weiße Semester“ anbrechen wird: sechs Monate vor der Wahl des Staatspräsidenten im Frühjahr 2022 dürfen keine Parlamentswahlen durchgeführt werden. Dies wird die Koalitionsdisziplin der Regierungsparteien deutlich verringern und die Bereitschaft, das eigene Profil zu schärfen, stark erhöhen. Wie lange es Draghi gelingen wird, alle widerstrebenden Parteien einigermaßen konstruktiv unter seiner Regierung zusammenzuhalten, ist eine offene Frage.
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