Eigentlich ist es der gleiche Film, der nun zum Jahresanfang in Italien und Deutschland zur Aufführung kommt. Gleich ist nicht nur der Titel: „Wahl des Staatspräsidenten“. Gleich ist – weitgehend – auch das Drehbuch: Zu bestimmen ist der oberste Repräsentant des Staates. Und in Italien ebenso wie in Deutschland tut er vor allem genau dieses: das Land und die Einheit der Nation nach innen wie nach außen zu repräsentieren.
Die Entscheidung wird in indirekter Wahl getroffen. In Italien tritt am 24. Januar das Wahlgremium der 1 009 Grandi Elettori zusammen, das aus den Mitgliedern der beiden Häuser des Parlaments sowie 58 Vertreterinnen und Vertretern der Regionen besteht. In Deutschland treten am 13. Februar die 1 472 Mitglieder der Bundesversammlung zusammen.
So ähnlich auf den ersten Blick die Rahmenhandlung ist, so unterschiedlich werden am Ende die beiden Streifen sein. In Berlin plätschert die Handlung vor sich hin, weil schon im Vorfeld alles klar ist. Ein einziger ernstzunehmender Kandidat, ein Wahlgang, ein Ergebnis, das jetzt schon feststeht: Steinmeier folgt auf Steinmeier. In Rom dagegen könnte die Spannung nicht größer sein. Wer am Ende das Rennen machen wird, liegt völlig im Nebel, im Nebel auch, welche Folgen die Präsidentenwahl für das Überleben der Regierung unter Mario Draghi, ja selbst für den Fortbestand des gegenwärtigen Parlaments hat.
Offiziell hat zwar bisher niemand seine Kandidatur angemeldet, doch als gesetzt gelten zwei Aspiranten, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Mario Draghi und Silvio Berlusconi. Draghi, der frühere EZB-Präsident, ist erst seit Februar 2021 in der Politik. Damals berief ihn Staatspräsident Sergio Mattarella an die Spitze einer Notstandsregierung. Nur mit Draghi als Ministerpräsident nämlich waren damals nach dem Scheitern der zweiten Regierung von Giuseppe Conte vorgezogene Neuwahlen zu vermeiden. Im gegenwärtigen Parlament hat kein politisches Lager eine Mehrheit. Dem „Technokraten“ Draghi gelang es in dieser Situation, eine Fast-Allparteien-Koalition zu formen, die von der rechtspopulistischen Lega über Berlusconis Forza Italia, Renzis Italia Viva (IV), das Movimento5Stelle (M5S) und die gemäßigt linke Partito Democratico (PD) bis zur radikal linken Liste Liberi e Uguali (Freie und Gleiche) reicht.
Offiziell hat zwar bisher niemand seine Kandidatur angemeldet, doch als gesetzt gelten zwei Aspiranten, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Mario Draghi und Silvio Berlusconi.
Draghi hat es zwar nie erklärt, aber in Rom wird als offenes Geheimnis gehandelt, dass er sich jetzt gerne von einer ähnlichen Mehrheit zum Präsidenten wählen lassen würde. In seiner Jahresend-Pressekonferenz wurde er überraschend deutlich. Die Regierung, glaubt er, könne auch ohne ihn an der Spitze weitermachen. Dafür sei allein „die Unterstützung der politischen Kräfte“ entscheidend. „Ich habe keine besonderen Ambitionen der einen oder anderen Art“, fügte er hinzu. „Ich bin ein Mann – oder wenn Sie so wollen ein Opa – der Institutionen“.
Für den 74-jährigen Draghi spräche seine mit Werten von über 60 Prozent sehr hohe Popularität in der Bevölkerung ebenso wie das große Ansehen, das er im Ausland – vorneweg in Europa – genießt. Weit weniger populär dagegen ist seine Kandidatur unter den meisten Parteien und unter ihren Mandatsträgern. Denn mit seinem Abgang als Regierungschef entstünde eine Vakanz, die schwer zu füllen wäre. Wer soll eine neue Notstandsregierung bilden, wer ein Parteienspektrum von hart rechts bis links außen zusammenhalten? Die Alternative wären Neuwahlen knapp ein Jahr vor Ablauf der Legislaturperiode im Februar 2023.
Solche Wahlen jedoch fürchten viele der aktuellen Mandatsträger. Denn mit der kommenden Legislatur wird das Parlament verkleinert. Viele Parteien werden damit bei der Anzahl der Abgeordneten aus ihren Reihen einen deutlichen Rückgang verzeichnen. Die Wahl Berlusconis wäre für sie allerdings auch keine Alternative. Auch er hat seine Kandidatur nicht offiziell angemeldet – lässt aber alle Welt wissen, dass er sich für präsidiabel hält. Gegen ihn spricht nur in zweiter Linie sein vorgerücktes Alter von 85 Jahren und dass mit ihm erstmals ein Parteiführer Staatspräsident würde. Berlusconi wäre der erste Staatspräsident mit Vorstrafe – 2013 wurde er wegen Steuerbetrugs zu vier Jahren Haft verurteilt und aus dem Senat ausgeschlossen. Er wäre der erste Präsident, der vielen weiteren Verurteilungen nur wegen Verjährung entging, der erste, dem zahlreiche Sexskandale anhängen, der erste, gegen den auch jetzt noch diverse Verfahren unter anderem wegen Zeugenbestechung laufen. Berlusconi selbst soll sich angeblich an der Vorstellung erfreuen, dass demnächst ausgerechnet sein Konterfei in allen Gerichts-Amtsstuben hängen könnte.
Berlusconi wäre der erste Staatspräsident mit Vorstrafe – 2013 wurde er wegen Steuerbetrugs zu vier Jahren Haft verurteilt und aus dem Senat ausgeschlossen. Seine Wahl wäre die sichere Gewähr, Italien im Ausland lächerlich zu machen.
Kurzum: Seine Wahl wäre die sichere Gewähr, Italien im Ausland lächerlich zu machen und das Land im Inneren tief zu spalten. Zugleich dürfte es sich unter einem Präsidenten Berlusconi als unmöglich erweisen, eine erneute Notstandsregierung aufzulegen, da Draghi unter ihm wohl kaum als Ministerpräsident weitermachen würde. Dies dürfte auch vielen rechten Abgeordneten klar sein. Auf dem Papier zählt der Rechtsblock etwa 450 der 1 008 Stimmen. Berlusconi hofft, zahlreiche freiflottierende Abgeordnete zu gewinnen, vorneweg aus dem Lager der mehr als 100, die seit 2018 aus der Fünf-Sterne-Fraktion austraten oder ausgeschlossen wurden. Ob diese Rechnung allerdings aufgeht, darf bezweifelt werden. Die Abstimmungen erfolgen geheim, und gerade Präsidentschaftswahlen gelten in Italien als Sternstunde der Heckenschützen. Dies musste beispielsweise Romano Prodi 2013 erfahren, der trotz scheinbar sicherer Mehrheit an mehr als 100 Abtrünnigen aus dem Mitte-links-Lager scheiterte.
Vor diesem Hintergrund wurde in den letzten Monaten immer wieder die Notlösung diskutiert, den bisherigen Amtsinhaber Sergio Mattarella einfach im Amt zu bestätigen, gleichsam als Platzhalter für Draghi, der bis 2023 weiterregieren würde, um sich dann vom neuen Parlament zum Präsidenten wählen zu lassen. Die Verfassung schließt ein zweites Mandat nicht aus – die seit 1948 geübte Verfassungspraxis allerdings schon. Hinzu kommt, dass Mattarella nach Ablauf seiner siebenjährigen Amtszeit gar nicht erneut antreten will, schon gar nicht für eine solche Notlösung.
Eine geordnete Lösung setzt deshalb jetzt Gespräche zwischen allen politischen Lagern voraus, denn keines hat eine eigene Mehrheit: Die Linke und die Fünf Sterne kommen auch nur auf gut 400 Stimmen, Renzi mit seiner Italia Viva auf 42. Für die Wahl des Präsidenten sind nach der Verfassung jedoch in den ersten drei Wahlgängen eine Zweidrittelmehrheit, ab dem vierten Wahlgang dann die absolute Mehrheit aller Stimmberechtigten, also 505 Stimmen, notwendig. Berlusconi ist überzeugt, dass er ab dem vierten Wahlgang gute Chancen hat, gewählt zu werden, auch wenn er numerisch nicht über die notwendigen Stimmen verfügt. Er ist zuversichtlich, dass es ihm gelingen wird, durch Versprechungen, Zusicherungen und auch Drohungen („Wenn Draghi Präsident wird, lasse ich die Regierung platzen und es gibt Neuwahlen.“) die notwendige Mehrheit auf sich zu vereinen. Dass ihm dieses Manöver gelingt, scheint aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich und wäre gleichsam ein Betriebsunfall. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass es Berlusconi verstünde, Dinge zu erreichen, die ihm nicht zugetraut wurden.
Sicher ist nur, dass in Italien noch nie so viel von einer Präsidentenwahl abhing wie jetzt. Und sicher ist auch, dass die dann eventuell fälligen Neuwahlen des Parlaments nicht einfach Neuwahlen wären, sondern womöglich ein politisches Desaster für Europa.
Völlig unklar ist, welche Auswirkungen die Coronapandemie auf die Wahl haben wird. Aktuell sind die Infektionszahlen dramatisch nach oben geschnellt. Über 2,2 Millionen Italiener sind infiziert und weit mehr befinden sich in Quarantäne. Es ist davon auszugehen, dass auch etliche der Grandi Elettori Ende Januar aufgrund einer Quarantäne nicht an der Wahl teilnehmen werden können. Es wird somit deutlich schwieriger werden, die verfassungsrechtlichen Mehrheiten zu erreichen. Dass ein Präsident im ersten Wahlgang oder mit Zweidrittelmehrheit gewählt wird, ist die Ausnahme. In der Regel sind zahlreiche Abstimmungen notwendig.
Nur wenige Tage vor dem Zusammentritt der Wahlversammlung am 24. Januar herrscht deshalb völlige Unklarheit im politischen Rom. Sicher ist nur, dass in Italien noch nie so viel von einer Präsidentenwahl abhing wie jetzt. Und sicher ist auch, dass die dann eventuell fälligen Neuwahlen des Parlaments nicht einfach Neuwahlen wären, sondern womöglich ein politisches Desaster für Europa. In den gegenwärtigen Meinungsumfragen liegt die Rechte vorn, und sie wird dominiert von den beiden extrem populistischen und Europa-skeptischen Parteien – der Lega unter Matteo Salvini und der postfaschistischen Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni –, die auf je knapp 20 Prozent kommen. Ob die jüngste italienische Renaissance alsbald ein jähes Ende findet, das entscheidet sich maßgeblich auch mit dem Ausgang und den Folgen der anstehenden Präsidentenwahl.
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